Wenn „sparen“ krank macht: Pflege im Notstand
Kaum vorstellbare Zustände in Alten- und Pflegeheimen – Chronischer Mangel an gut ausgebildeten Fachkräften für Pflege – DPV und Buch-Autor warnen vor der gefährlichen Pflege in Deutschland - Kanzlerin will die Zustände in der Pflege prüfen
Von Andreas Klamm – Sabaot
Berlin.17. September 2010. Während das große deutsche Leitmedium BILD in extrem großen Lettern die frohe Botschaft des Wirtschaftswunders 2010 verkündet, gehen die alarmierenden Nachrichten über den Notstand in der Pflege nahezu gänzlich unter. In vielen Pflegebereichen in Deutschland werden alarmierende Zustände gemeldet. Oft müssen nur vier ausgebildete staatliche Fachkräfte für Pflege, Stationen im Altenheim mit bis zu 35 Patienten im Frühdienst versorgen, wovon 15 der Patienten schwerst kranke Menschen und Pflegefälle seien. Die chronische personelle Unterbesetzung mit qualifiziertem Pflegepersonal führt zur sogenannten gefährlichen Pflege, bei der eine akute Gefährdung der Gesundheit und des Lebens von Menschen nicht auszuschließen ist. Der Deutsche Pflegeverband (DPV) e. V. in Neuwied warnte erst vor wenigen Tagen vor den Folgen der gefährlichen Pflege.
In einer Mitteilung attestiert der Pflegeverband zwar der Bundeskanzlerin Angela Merkel politisches Fachwissen, doch am Fachwissen von Angela im Bereich der professionellen und verantwortungsvollen Pflege bestehen deutliche Zweifel: Der Pflegeverband kritisiert: „Die jüngsten Äußerungen der Bundeskanzlerin, dass Hartz IV-Empfänger den Fachkräftemängel in der Pflege kompensieren könnten, sind ein weiterer Beleg für mangelnde Wahrnehmung der wirklichen Probleme in der Pflege durch die Bundesregierung. Sicherlich könnten mit einem Teil von Hartz IV Empfängern Qualifizierungs-Maßnahmen für den Pflegeberuf durchgeführt werden.“
Doch der Deutsche Pflegeverband zweifelt an der Wahrnehmung der politischen Entscheidungsträger zu den Vorstellungen über die Notwendigkeit und Herausforderungen fachlich gut ausgebildeter Pflege-Fachkräfte in der Erfüllung ihres Dienstes für mehrere Millionen Menschen, die krank, behindert und der Pflege bedürftig sind.
Seit Jahren ist es die Sorge der fachlich gut ausgebildeten Pflegekräfte, dass mit einer Besetzung von nur vier Fachkräften an Werktagen, am Wochenende oft nur drei Fachkräfte für Pflege auf einer Pflege-Station mit 35 Patienten, von denen 15 Menschen schwerst krank und schwerst pflegebedürftig sind, eine sichere Pflege nicht mehr möglich ist. Doch statt in der logischen Folgerung die Anzahl der Pflegefachkräften in hoch belasteten Stationen der Altenpflege für schwer kranke Menschen zu erhöhen, reagieren Politiker oft nur mit dem Mittel der Verordnung neuer Gesetze, zusätzlichen Verwaltungs-Mechanismen für Dokumentation und neuen Ausführungsvorgaben. Damit wird das ernste und bedrohliche Problem der Unterbesetzung von Kranken- und Pflege-Stationen mit fachlich ausgebildeten Pflegekräfte nicht gelöst, sondern sogar verschärft. Verantwortungsbewusst handelnde Pflegebereichs-Leitungen schreiben immer öfter sogenannte „Überlastungs-Anzeigen“ wegen fehlender fachlicher Pflegekräfte auf den Pflegestationen für schwerst kranke Menschen. Die Ausfertigung einer Überlastungs-Anzeige dient dazu, die Vorgesetzten auf Gefahren und Mißstände hinzuweisen und wird in der Regel auch aus Gründen der rechtlichen Haftung empfohlen, auch als eine Maßnahme des Eigenschutzes bei drohenden Gerichtsverfahren in der Folge von Pflege-Fehlern, die bei chronischem Personalmangel fast schon vorprogrammiert sind. Solche Pflege-Fehler wären verhinderbar, wenn die Bundesregierung, nach dem sich Deutschland etwas von den Folgen der globalen Weltwirtschafts-Krise erholt hat, die Freigabe zur Einstellung für mehr qualifizierte Pflege-Fachkräfte geben würde.
Pflegefachkräfte kosten mehr Geld, im Schnitt im Monat, je nach Arbeitsvertrag und Anzahl der Arbeitsstunden zwischen 1600 Euro bis 2400 Euro. Die Ausbildung einer Fachkraft in der Pflege, als Krankenpfleger, Krankenpflegerin, Gesundheits- und Krankenpfleger, Gesundheits- und Krankenpflegerin, Altenpfleger oder Altenpflegerin dauert in der Regel drei Jahre. Die Ausbildung endet erfolgreich erst mit dem Bestehen eines Staatsexamens, das aus einem theoretischen, schriftlichen, praktischen und mündlichen Prüfungsteil besteht.
Die Politiker verwechseln mehr und mehr die Begrifflichkeiten „kürzen“ und „sparen.“ Obgleich medial und politisch das sogenannte Wirtschaftswunder jetzt gefeiert wird, das viele kranke und behinderte Menschen und Menschen ohne Erwerbs-Arbeitsplätze nicht erreicht, plant die Regierung in den kommenden Wochen weitere Kürzungen in den sozialen Bereichen und damit auch in der Pflege. Sparen, im Sinne von einen Überschuss auf die Seite legen, kann in der Regel nur derjenige, der einen finanziellen Überschuss hat. Das trifft auf die bereits personell unterbesetzten Pflegestationen auf denen nur vier Fachkräfte für Pflege, 15 schwerst kranke Patienten und insgesamt 35 kranke Patienten gut pflegen sollen, nicht zu. Weil Kürzungen geplant sind, wird nicht die neue Einstellung gut ausgebildeter Fachkräfte für Pflege zur Lösung der Probleme diskutiert, sondern die Hilfs-Ersatz-Dienste durch Bezieher von Sozialleistungen, das meint Menschen, die oft auch als Hartz IV-Bezieher oder als Transfer-Leistungsbezieher bezeichnet werden. Diese verfügen nur selten über eine dreijährige Fachausbildung und sollen mittels mehrere Wochen dauernden Kurse „qualifiziert“ werden. Jeder Arzt versteht, dass ein Wochenkurs, kein mehrere Jahre dauerndes Studium ersetzten kann. Es kann nicht so schwer zu verstehen sein, dass Wochenkurse für Transfer-Leistungsbezieher keine dreijährige fachliche Pflege-Ausbildung und ein Staatsexamen ersetzen können. Politiker mit mehr und mehr neuen Kürzungs-Absichten ignorieren oft die Warnungen der Pflege-Experten.
Die inzwischen oft nur noch privatwirtschaftlich strukturierten Bereiche der Krankenpflege und Altenpflege sind auf Gewinn-Maximierung mit dem Grundsatz der BWL, das meint die Betriebswirtschaftslehre orientiert, mit einem Minimum an Einsatz von Mitteln den größten möglichen Gewinn zu erwirtschaften. Die staatlichen Pflege-Einrichtungen sind von Kürzungs-Zwängen belastet, die ebenso wenig die dringend erforderliche sowie notwendige Neueinstellung von ausgebildeten Fachkräften für Pflege erlauben. In der Folge dieses Grundsatzes bleiben Gesundheit und das Leben von Menschen aufgrund von Gewinnerzielungs-Absichten auf der Strecke. Juristisch betrachtet sind es sogenannte „niedrige Beweggründe“ (Geld, wirtschaftliche Vorteile), die die Neueinstellung von gut ausgebildeten Fachkräften für Pflege in Deutschland verhindern und zur Bedrohung von schwerst kranken Menschen auf den Pflegestationen führen. Die meist bereits eingeschränkte Gesundheit und das Leben von kranken Menschen und Patienten wird bedroht. Die Belastungen der Fachkräfte für Pflege sind enorm und kaum noch zu bewältigen. Der Deutsche Pflegeverband teilte mit: "Was in der Pflege für die aktuelle und perspektivische Qualität gebraucht wird, sind nicht nur Hände, sondern qualifizierte Köpfe. Schon jetzt liegt in den Pflegeeinrichtungen die Fachkraftquote wegen fehlendem Nachwuchs weit unter 50 Prozent“.
Gesundheit und das Leben von Menschen gelten als das höchste Gut. Doch die Politik handelt nicht entsprechend eines Weltbildes, in der Gesundheit und das Leben von Menschen das höchste Gut sind. Vielmehr stehen Überlegungen zum Kapital und der Vermehrung von Kapital oft im Vordergrund politischer Entscheidungs-Prozesse.
Der Pflegeverband empfiehlt der Kanzlerin unangemeldete Besuche in den Alten- und Pflegeheimen, statt inszenierte, aufbereiteter Gänge auf dem roten Teppich, um wenigstens einen kleinen Teil der bedrohlichen Zustände in der Pflege sehen und erfahren zu können. Wie würden die Verbände der deutschen Ärzteschaft wohl reagieren, wenn in der Folge des bestehenden Ärzte-Mangel die Politik empfiehlt, jede zweite Stelle mit Hartz IV-Empfängern neu zu besetzen, die ohne Medizin-Studium in Wochen-Kursen für ihren künftigen ärztlichen Dienst „qualifiziert“ werden, hinterfrägt der Pflegeverband kritisch. Immerhin sei das Thema Bedrohungen in der Pflege durch den Mangel an gut ausgebildeten Fachkräften für Pflege bei Angela Merkel angekommen.
Im Buch „Abgezockt und totgepflegt“, berichtet der Autor Markus Breitscheider in einer erschütternden Reportage von seinen Beobachtungen, die er während eines Jahres als schlecht bezahlter Altenpfleger in deutschen Pflegeheimen hat machen müssen. Der Autor gelangt zur Überzeugung, dass Deutschland eine „Alten-feindliche“ Gesellschaft sei und nicht nur „Kinder-feindlich.“. In bester Wallraff´scher Manier recherchierte Markus Breitscheider über das elendig erscheinende, ungeschminkte Bild der Pflege im realen Leben in Deutschland. Der Erfahrungen, die der Autor sammeln konnte, stellen alle negativen Dinge in den Schatten, die sich ein Mensch über schlimmste Zustände in der Pflege ausmalen kann. Das Buch ist bereits im Jahr 2005 im Econ Verlag mit der ISBN-Nummer 3430115728 zum einem Preis von 16,95 Euro erschienen. Obgleich der Autor aufgrund seiner Recherchen in seinem Buch auf aller schwerste Nöte und dem Mangel an gut ausgebildeten Fachkräften in der Pflege aufmerksam machte, hat dies in den vergangenen, mindestens fünf Jahren nicht dazu geführt, mehr gut ausgebildete Fachkräfte für Pflege in den Bereichen der Alten- und Krankenpflege einzustellen. Für den Leser stellt sich die Frage, dürfen finanzielle Gewinn-Absichten sowie der Wunsch nach mehr Kapital einiger Profiteure in Deutschland über dem Recht auf körperliche Unversehrtheit, Gesundheit und Leben von kranken Menschen und Patienten stehen ?
Anmerkung der Redaktions-Mitarbeiterin von 3mnews.org und Reporterin Tina Green: Der Autor des Beitrags, Andreas Klamm – Sabaot, ist französisch-deutscher Journalist, Rundfunk-Journalist und Autor von neun veröffentlichten Büchern seit 1984. Im sekundären Zweitberuf ist der Autor seit 1993 staatlich geprüfte Fachkraft für Pflege, mit der Erlaubnis zur Führung der Berufsbezeichnung Krankenpfleger sowie Gesundheits- und Krankenpfleger. Das Staatsexamen hat er im Oktober 1993 nach einer weiteren und zusätzlichen dreijährigen Ausbildung bestanden. Er arbeitete unter anderem auch in der Intensiv-Pflege an mehreren Universitäts-Kliniken (in Tübingen, in Mainz und in London, Krankenhäusern der Städte und Landkreise) in Deutschland und in Groß Britannien. Als Journalist verfügt der Autor über mehr als 25 Jahre Berufserfahrung und in der Pflege an 17 Jahren Berufserfahrung als Fachkraft. In den Jahren 2003 und 2004 war er zudem Student an der Evangelischen Fachhochschule für Sozial- und Gesundheitswesen in Ludwigshafen am Rhein (heute Fachhochschule Ludwigshafen am Rhein, Fachschaft 4) und studierte in der Fachrichtung Pflegeleitung. Im Allgemeinen Studierenden Ausschuss (AstA) war er als gewähltes Mitglied ehrenamtlich engagiert.
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